SoVD in Hannover-Süd überprüft taktile Bodenleitsysteme und fordert VerbesserungenWie gelingt barrierefreie Fortbewegung?
Um die konsequente Teilhabe aller Menschen zu gewährleisten, muss allen ermöglicht werden, sich gefahrlos und barrierefrei in städtischen Räumen zu bewegen. Für Menschen, die blind sind oder eine Sehbehinderung haben, ist dafür entscheidend, dass taktile Bodenleitsysteme vorhanden sind. Engagierte aus dem SoVD-Ortsverband Hannover-Süd haben ihren Stadtbezirk daraufhin überprüft und sehr viele Mängel und Gefahrenstellen aufgedeckt. Nun machen sie sich im Dialog mit Politik und Stadtverwaltung dafür stark, dass Bodenindikatoren angebracht werden. Die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und auf die Problematik aufmerksam zu machen, ist den SoVD-Aktiven schon jetzt gelungen.
„Ich möchte nicht immer andere Menschen fragen, um Hilfe bitten, sondern mich im öffentlichen Raum selbstständig bewegen.“ Ulrike Schulz-Tonagel, Schatzmeisterin im SoVD-Ortsverband Hannover-Süd, formuliert mit dieser Aussage ein Anliegen, das eigentlich nicht der Rede wert sein sollte. Vielmehr sollte dies selbstverständlich sein, denn der Stadtraum ist für alle da. Doch stellt die SoVD-Engagierte sogar in ihrem eigenen Stadtteil fest, dass sie sich nicht eigenständig – und auch nicht sicher – fortbewegen kann. Schulz-Tonagel, die seit Februar 2024 ehrenamtlich beim SoVD aktiv ist, hat eine Sehbehinderung. In ihrem Stadtteil muss sie regelmäßig von der Haltestelle „Am Mittelfelde“ nach Hause laufen. Da sie noch ein Restsehvermögen hat, orientiert sie sich auf dem Weg an einem gelben Briefkasten. Falls dieser eines Tages abmontiert wird oder Schulz-Tonagel ihn verpasst, ist sie darauf angewiesen, andere Menschen nach dem Weg zu fragen, damit sie die Straße gefahrlos überqueren kann.
Sicherheit und Unabhängigkeit durch taktile Bodenleitsysteme
Diese Situation ist von gleichberechtigter Teilhabe und Barrierefreiheit weit entfernt. Helfen würden hier taktile Bodenleitsysteme. Dabei handelt es sich um Strukturen – Riffel, Punkte, Rillen – die in den Boden eingelassen sind und die blinde Menschen mit den Langstock ertasten oder mit den Füßen spüren können. Mit Hilfe solcher Leitsysteme können sich Betroffene im öffentlichen Raum und in Gebäuden eigenständig orientieren. Die Felder signalisieren etwa den Einstiegsbereich einer Bushaltestelle oder warnen vor Hindernissen. Idealerweise sind diese Bodenleitsysteme so angebracht, dass sie durchgehende Wegeketten bieten. Besonders problematisch ist das Fehlen der Leitsysteme für taubblinde Menschen, da sie sich nicht über das Gehör orientieren können.
Schulz-Tonagel tauschte sich mit den anderen SoVD-Aktiven im Ortsverband aus. Ihre Schilderungen über die mangelnde Barrierefreiheit stießen beim Team um Dirk Battke, Vorsitzender des SoVD in Hannover-Süd, auf offene Ohren. Für die Engagierten war sofort klar, dass der SoVD sich für Verbesserungen einsetzen werde. Im März 2024 stellte Dirk Battke einen Antrag beim Bezirksrat, damit die fehlenden taktilen Bodenleitlinien an der Kreuzung „Am Mittelfelde“ nachträglich angebracht werden. „‚Am Mittelfelde‘ ist eine sehr stark befahrene Straße mit Straßenbahn- und Bushaltestelle“, beschreibt Dirk Battke. Da diese für Menschen mit Sehbehinderung besonders gefährlich sei, habe man hier dringenden Handlungsbedarf gesehen. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt: Eine Umsetzung, unter anderem aus finanziellen Gründen, sei nicht realisierbar. Grundsätzlich folge man dem Antragswunsch und werde die Barrierefreiheit berücksichtigen, sobald die Fußwege insgesamt saniert werden, berichtet der SoVD-Ortsverbandsvorsitzende.
Gemeinsame Straßenbegehung: SoVD-Ortsverband initiiert Aktionstage
Mit diesem Ergebnis gaben sich die SoVD-Engagierten nicht zufrieden. Nachdem Schulz-Tonagel das SoVD-Team für die Problematik sensibilisiert hatte, hatte Battke die Idee, den gesamten Stadtbezirk Döhren-Wülfel auf Bodenindikatoren zu untersuchen. Dafür wurde bereits wenige Wochen später eine mehrtägige Aktion ins Leben gerufen: Betroffene, Interessierte und Vertreter*innen der demokratischen Fraktionen im Stadtbezirksrat wurden eingeladen, an gemeinsamen Straßenbegehungen teilzunehmen. Eingeladen wurden ebenfalls der Stadtbezirksmanager für Döhren-Wülfel, der Blinden- und Sehbehindertenverband und der Behindertenbeauftragte der Stadt Hannover. Neben persönlichen Einladungen verschickte Battke auch eine Pressemitteilung, um die mehrtägige Aktion bekannt zu machen. Darüber hinaus kündigten die Ehrenamtlichen die Aktion über Flyer und Aushänge an. So war es für alle interessierten Bürger*innen möglich, daran mitzuwirken. „Uns war es wichtig, die Begehungen gemeinsam mit Betroffenen durchzuführen und unseren Stadtteil zu überprüfen. Danach wollten wie die Politik über die Mängel und Gefahrenstellen informieren“, schildert Battke.
Die Resonanz war insgesamt gut: An den vier Aktionstagen beteiligten sich interessierte Bürger*innen ebenso wie Personen, die selbst eine Sehbehinderung haben. Auch der Stadtbezirksmanager, verschiedene Vertreter*innen der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU im Bezirksrat, die SPD-Ratsfrau der Landeshauptstadt Hannover und ein Vorstandsmitglied des Landesseniorenrats beteiligten sich. An den vier Tagen wurden jeweils andere Abschnitte des Stadtteils auf gemeinsamen Spaziergängen untersucht. Dabei wurden die Beobachtungen in einer Checkliste festgehalten; positive wie mangelhafte Umsetzungen der Barrierefreiheit wurden notiert und es wurde vermerkt, welche Bedarfe es an den jeweiligen Orten gibt. Nach jedem Prüftag tauschte man sich bei Kaffee oder Tee über die Eindrücke aus und protokollierte die Feststellungen.
Ernüchternde Ergebnisse der Überprüfung
Neben einem positiven Beispiel im Stadtteil, bei dem ein Übergang optimal gestaltet wurde – mit abgesenkten Bordsteinen an den Straßeneinmündungen und Bodenleitlinien für sehbehinderte Menschen – wurden vor allem zahlreiche Mängel aufgedeckt. So fehlen Leitlinien oft an wichtigen und stark frequentierten Stellen wie den Übergängen zum öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), an Ampeln ohne akustische Signale oder an Straßenkreuzungen. Für Betroffene ist es so nicht möglich, eigenständig die Wege zu den ÖPNV-Haltestellen zu finden oder Kreuzungen sicher zu überqueren. Als weitere Probleme wurden Stolperfallen und Bodenunebenheiten ausgemacht. Hindernisse, die ebenfalls beobachtet wurden, waren auf den Bodenleitlinien parkende Fahrzeuge. Als besonders gefährlich stuften die Engagierten zudem ein, dass Fahrradwege für blinde Menschen nicht markiert sind.
Über die Ergebnisse der Begehungen informierten die SoVD-Ehrenamtlichen die Öffentlichkeit mit einer Pressemitteilung; verschiedene Medienberichte griffen das Thema auf. Damit die vorgefundenen Mängel bald behoben werden, schrieb Dirk Battke zudem die Bezirksbürgermeisterin, Vertreter*innen des Stadtbezirksrats und die hannoversche Fußgängerbeauftragte an und berichtete mit einer übersichtlichen Aufstellung der Mängel über die ernüchternden Ergebnisse der Aktionstage. Seine Beschreibung der Problemstellen und Gefahrenpunkte verband er mit der Bitte, sich für die Beseitigung der Barrieren einzusetzen, „damit unsere sehbehinderten Bürger am öffentlichen Leben uneingeschränkt teilnehmen können und nicht immer auf die Hilfe von anderen Menschen angewiesen sind.“
Umsetzung von Barrierefreiheit ist komplex
Aus Sicht des SoVD in Hannover-Süd sind die bisherigen Rückmeldungen nicht zufriedenstellend. Die Stadtverwaltung verweist etwa darauf, dass taktile Bodenindikatoren erst bei regulären Umbau- oder Erneuerungsmaßnahmen von Kreuzungen, Querungen oder Haltestellen eingebaut werden. Battke betont, dass der SoVD nicht lockerlassen und sich weiter dafür einsetzen werde, dass zumindest an besonders frequentierten Stellen zeitnah taktile Leitlinien angebracht werden. Dafür nutzen Battke und seine Mitstreiter*innen weitere Aktionen und Veranstaltungen, um in den Austausch zu kommen und Menschen für die Missstände bei der Barrierefreiheit zu sensibilisieren.
Der SoVD in Hannover-Süd hat mit seinem Engagement einen besonderen Fokus auf die taktilen Leitsysteme gelegt und dafür bei Politik und Öffentlichkeit ein Problembewusstsein geschaffen. Die Bedarfe an Barrierefreiheit seien jedoch unterschiedlich, sehr komplex und sie widersprechen sich auf den ersten Blick mitunter sogar, sagt Kathrin Schrader, stellvertretende Leiterin der Abteilung Sozialpolitik beim SoVD in Niedersachsen. Wer mit dem Rollstuhl unterwegs sei, benötige an der Kreuzung vielleicht eine andere Lösung als eine blinde Person, die einen Langstock nutze. Trotzdem gebe es Lösungen, die alle Bedarfe gleichermaßen berücksichtigen. Dafür sei der Austausch aller Beteiligten wichtig – von verschiedenen Betroffenen, von Verwaltung und Politik. Es sei aber auch notwendig, Expert*innen einzubeziehen, wie etwa Stadtplaner*innen, die für Barrierefreiheit geschult sind. Seit Langem fordert der SoVD-Landesverband Niedersachsen daher, Barrierefreiheit als verpflichtendes Modul in entsprechende Studiengänge – wie Architektur und Stadtplanung – einzubeziehen.
Kontakt und Austausch
Ehrenamtliche, die in ihrem Ort ebenfalls eine Überprüfung der Barrierefreiheit durchführen möchten oder dies bereits umgesetzt haben, können sich für einen Austausch gerne an Dirk Battke, Vorsitzender des SoVD in Hannover-Süd, wenden: info(at)sovd-hannover-sued.de.