In GedenkenWir erinnern an das ehemalige „Judenhaus“ in der Herschelstraße 31
Gespräch mit der Historikerin Dr. Marlis Buchholz
Dr. Marlis Buchholz forscht seit Jahrzehnten insbesondere zur Geschichte der Jüdinnen und Juden zur Zeit des Nationalsozialismus. Sie hat dem SoVD umfassende Informationen über das ehemalige „Judenhaus“ in der Herschelstraße zur Verfügung gestellt und den Verband intensiv bei der Aufarbeitung unterstützt. Das folgende Gespräch, das der SoVD im Sommer 2024 mit Dr. Buchholz führte, gibt eine Einführung in die Thematik.
In Ihrem Buch „Die hannoverschen Judenhäuser“ von 1987 schildern Sie unter anderem die Umsetzung der Räumungsmaßnahmen gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Diese verlief in Hannover besonders brutal und traf sie unvorbereitet. Wie kam es dazu?
Den Juden den Wohnraum wegzunehmen und die jüdische Bevölkerung zu konzentrieren, ging in den Städten unterschiedlich vonstatten. Begonnen hat es mit dem „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ von 1939 und das wurde unterschiedlich ausgelegt. Aufgrund der Quellenlage habe ich damals herausgefunden, dass es in Hannover im Vergleich zu anderen Städten nicht straff umgesetzt wurde und die Stadtverwaltung wenig darauf einwirkte, dass Juden aus ihren Wohnungen auszogen.
Die Situation verschärfte sich mit dem Amtsantritt von NSDAP-Gauleiter Hartmann Lauterbacher, der die Umsetzung als zu schleppend beurteilte. Im August 1941 gab es auf Anweisung von Gauleiter Lauterbacher ein Treffen von Vertretern des Regierungspräsidenten, der städtischen Mobilmachungsabteilung, der Gestapo, des Oberfinanzpräsidenten und der NSDAP-Dienststelle. Sie alle haben gemeinsam festgelegt, dass die Maßnahmen nun sehr schnell auf den Weg gebracht werden müssen – am 3. und 4. September. Die Menschen mussten also wirklich von einem Tag auf den anderen Tag ihre Wohnungen verlassen. Sie durften kaum etwas mitnehmen und der Rest, der noch in den Wohnungen war, wurde beschlagnahmt.
Die „Judenhäuser“ in Hannover befanden sich dann in verschiedenen Stadtvierteln, es lässt sich keine bestimmte Vorgehensweise erkennen, warum genau diese 16 Häuser ausgewählt wurden. Aber alle waren zuvor in jüdischem Besitz oder der jüdischen Gemeinde zugehörige Gebäude, wie etwa das Krankenhaus in der Ellernstraße.
Wurde auf ältere, sehr kranke und pflegebedürftige Menschen in irgendeiner Form Rücksicht genommen?
Von denjenigen, die wirklich stark gebrechlich waren, sind viele in die Ellernstraße gekommen, dort war das jüdische Krankenhaus. Das existierte weiterhin und da durften sich Juden noch behandeln lassen. Es gab aber auch ein jüdisches Altersheim. Ich habe es nicht untersucht, aber es gibt einige Hinweise, dass Menschen, die wirklich sehr alt und krank waren, dort hinkamen. Sie wurden dann aber auch deportiert. Viele sind wahrscheinlich auch, obwohl es ihnen nicht gut ging, in den Häusern geblieben, und wurden nachbarschaftlich gepflegt.
Was ist über das Schicksal der Eigentümerfamilie Klompus und die Umwandlung der Herschelstraße 31 in ein „Judenhaus“ bekannt?
Das Gebäude Herschelstraße 31 war damals im Eigentum der Familie Klompus, 1936 hatte es Rosette Klompus von ihrem verstorbenen Mann geerbt. Im Haus lebten sowohl jüdische als auch nichtjüdische Mieter. Als es im September 1941 in ein „Judenhaus“ umfunktioniert wurde, hatten die nichtjüdischen Bewohner das Haus verlassen. Etwa 70 neue jüdische Bewohner wurden zwangseingewiesen. Von der ersten Deportation aus Hannover in das Ghetto Riga am 15. Dezember 1941 waren auch 85 Bewohner und Bewohnerinnen der Herschelstraße 31 betroffen, unter ihnen auch drei Kinder von Rosette Klompus. Sie selbst musste im Februar 1942 in das „Judenhaus“ An der Strangriede 55 umziehen. Von dort wurde sie am 23. Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie vier Wochen später verstorben ist; die Todesfallanzeige vermerkt als Todesursache „Alters- und Herzschwäche“.
Nach den Deportationen im Dezember 1941 ist die Zahl der in der Herschelstraße 31 lebenden Menschen auf 60 bis 70 Personen gesunken. Wer überlebte und weiterhin im „Judenhaus“ wohnte, war enormen Freiheitsbeschränkungen unterworfen. Auch das erzwungene enge Zusammenleben der Bewohner*innen war sicher nicht konfliktfrei.
Allgemein waren die Wohnverhältnisse in „Judenhäusern“ beengt und die Hygiene eingeschränkt oder schlecht. Das Haus in der Herschelstraße war besser ausgestattet als andere, eher baufällige, Gebäude. Es gab hier Strom, Wasser und Toiletten in den Wohnungen. Auch gab es pro Wohnung eine Küche, die sich fünf oder sechs Familien teilen mussten. In anderen „Judenhäusern“ haben sich bis zu neun Personen einen kleinen Raum teilen müssen. Die Verhältnisse waren also unterschiedlich; in der Herschelstraße hatten die Paare und Familien wenigstens ein Zimmer für sich.
Für das „Judenhaus“ in der Lützowstraße gibt es Aussagen aus Briefen, ein Vater schreibt darin sinngemäß an seinen Sohn, es sei nicht einfach mit so vielen Leuten. Oft war es sehr eng, und die Menschen konnten sich nicht aus dem Weg gehen. Manche konnte man vielleicht gar nicht leiden. Und es gab auch die Altersunterschiede. Die Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses war ebenfalls stark reguliert. Es gab Ausgangsbeschränkungen – zu einer bestimmten Uhrzeit durften Juden das Wohngebäude nicht mehr verlassen. Sie durften keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Besonders wenn sie zu Arbeit mussten – sie wurden zum „geschlossenen Arbeitseinsatz“ eingeteilt –, war das schwierig. Auch die Einkaufsmöglichkeiten mit den jüdischen Lebensmittelkarten waren eingeschränkt. Man konnte nicht einfach in einen Bäckerladen gehen und Brot kaufen. Man durfte nur bestimmte Geschäfte aufsuchen.
Im Grunde konnte jedes Verhalten bestraft werden, ganz willkürlich. Anordnungen reglementierten alles bis ins Kleinste. Ein nicht richtig angebrachter Judenstern oder eine verkaufte Zigarette konnten schlimme Folgen haben. Für die Herschelstraße ist bekannt, dass acht Männer aus dem Haus wegen angeblichen Schwarzhandels mit Zigaretten verhaftet wurden. Sie wurden in das Arbeitserziehungslager Lahde gebracht und dort ermordet.
Zur Willkür gehörte auch die Gewalt der Gestapo. Deren Mitglieder hatten jederzeit Zugang zu den Räumen des „Judenhauses“ in der Herschelstraße und die Bewohner*innen waren ihrer Kontrolle schutzlos ausgeliefert.
Ja, die Gestapo war zwar nicht selbst im Haus, aber es gab regelmäßig unangekündigte Kontrollen. Oft gegen 22, 23 Uhr nachts, wie es von überlebenden Hausbewohnern geschildert wurde. Wenn die Gestapo-Männer darauf Lust hatten, dann haben sie die Menschen auch in den Keller kommen lassen, das passierte regelmäßig, und dann haben sie sie verprügelt. Von diesen Misshandlungen wissen wir durch Überlebende, die in den Nachkriegsprozessen gegen hannoversche Gestapo-Beamte ausgesagt haben.
Einer von ihnen, Alfred Jonas, hat geschildert, wie sie die Treppe hinunter in den Keller getrieben wurden. Dann wurden willkürlich Männer verprügelt oder sie wurden gezwungen, einen Mitbewohner zu verprügeln. Die Hausbewohner hatten da schon versucht, Besenstiele und andere Gegenstände im Haus vor der Gestapo zu verstecken. Aber auch das hat nicht gereicht. Dann wurde ein Liegestuhl zerbrochen und damit auf die Menschen eingeschlagen. Alfred Jonas hat damals massive Striemen davongetragen, er konnte lange nicht stehen, sitzen oder liegen. Das ist relativ ausführlich dokumentiert.
Die Gestapo-Leute waren oft alkoholisiert. Bei den Gewaltexzessen mussten auch die Kinder zusehen. Die frühere Hausbewohnerin Ruth Gröne hat geschildert, wie mutig ihre Mutter war, als sie sich bei einem Gestapo-Beamten dafür eingesetzt hat, dass Ruth und sie nicht mehr in den Keller gehen mussten.
Die Stadt Hannover plant, einen zentralen Gedenkort in der Lützowstraße zu schaffen, der auch über alle 16 „Judenhäuser“ im Stadtraum dauerhaft informiert. Warum kommt diese Aufarbeitung so spät?
Das kann ich nicht schlüssig beantworten; die Forschungsergebnisse lagen seit Anfang der 1980er Jahre vor. Hannover war eine der ersten Städte, in denen die Thematik intensiver untersucht worden ist. Es gab hier schon früh mehrere Initiativen, die lokale Geschichte im Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Ein Anstoß dazu kam unter anderem 1978 vom Historischen Seminar in der Universität Hannover. Damals gab es die Veranstaltung „Stätten der Unterdrückung und des Widerstandes in Hannover“. Ich habe mich für das Thema „Judenhäuser“ entschieden, ohne damals ganz genau zu wissen, was das ist. Eines der „Judenhäuser“ war am jüdischen Friedhof An der Strangriede, dort bin ich auf meinem Schulweg früher jeden Tag vorbeigelaufen. Ich gehe davon aus, dass es damals auch in anderen Städten Ansätze zur Aufarbeitung gab, aber dieses Buch war das erste, das eine solche Zusammenfassung der Thematik gebracht hat. Aber natürlich ist die Forschung in den vergangenen 40 Jahren weitergelaufen, neue Quellen wurden erschlossen, Zeitzeugen und Zeitzeuginnen haben sich erinnert.
In Hannover gibt es auch bereits einige Gedenktafeln, die auf frühere „Judenhäuser“ verweisen. Es gibt die Tafel am jüdischen Friedhof An der Strangriede, eine Stadttafel am Heinemanhof in der Brabeckstraße, wo ursprünglich ein Altersheim für jüdische ältere Damen war. Dann wird noch erinnert an die „Judenhäuser“ in der Ellernstraße – das jüdische Krankenhaus – und in der Ohestraße, wo sich das jüdischen Gemeindezentrum befunden hat. Eine sichtbare Erinnerung an alle „Judenhäuser“ gibt es bislang allerdings noch nicht, aber es gibt die von Ihnen erwähnten Planungen, eine zentrale Informationstafel am Ort des 1943 zerstörten „Judenhauses“ in der Lützowstraße aufzustellen, der ehemaligen jüdischen Volksschule.