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Armutsrisiko Pflege: Vor allem Frauen sind gefährdetSoVD-Fachtagung zeigt Lösungen auf

Wie lässt sich Armut durch Pflege wirksam verhindern? Was brauchen pflegende Angehörige? Und was kann und muss die Politik tun? Das haben der SoVD und die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) Niedersachsen bei einer gemeinsamen Fachtagung in Hannover zusammen mit Experten und Betroffenen erörtert.

„Pflege und Armut: Das eine führt oft zum anderen“, stellte der SoVD-Landesvorsitzende Bernhard Sackarendt in seiner Begrüßung der rund 70 Teilnehmenden fest. „Wenn wir in Deutschland über Pflege reden, haben wir oft vor allem die stationäre Pflege und ihre Kosten im Blick. Dabei wird gerne übersehen, dass mehr als drei Viertel der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden – und zwar in der Regel von Angehörigen oder nahestehenden Personen“, so Sackarendt weiter.

In 70 Prozent der Fälle seien es Frauen, die sich um die Pflegebedürftigen kümmern und unbezahlte Sorgearbeit leisten. Der SoVD-Chef brachte es auf den Punkt: „Die Frauen stellen den größten Pflegedienst in Deutschland.“ Dafür träten sie beruflich oft kürzer oder verzichteten sogar ganz auf eine Erwerbstätigkeit. Das mache sich nicht nur vorübergehend im Portemonnaie bemerkbar, sondern vor allem auch später bei der Rente. „Damit sind es gerade die Frauen, die durch häusliche Pflege besonders von Altersarmut bedroht sind“, betonte Sackarendt, der die mangelnde finanzielle Anerkennung häuslicher Pflege kritisierte.

SoVD-Gutachten liefert Zahlen und Fakten

Ein vom SoVD beauftragtes Gutachten zeigt den Zusammenhang zwischen häuslicher Pflege und Altersarmut von Frauen jetzt erstmals deutlich auf. Die Autorin Katja Knauthe von der Hochschule Zittau/Görlitz stellte die Studie im Rahmen der Fachtagung ausführlich vor.

Danach leisten Frauen täglich 87 Minuten mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer. Fasst man familiäre und erwerbsmäßige Arbeit zusammen, kommen sie damit auf eine insgesamt 18 Jahre längere Lebensarbeitszeit. Zwei Drittel der pflegenden Frauen sind im erwerbsfähigen Alter und müssen Pflege und Beruf miteinander vereinbaren.

„Frauen entscheiden sich nicht bewusst für die Altersarmut, sind aber im Verlauf ihres Lebens Verarmungsrisiken wie Teilzeitarbeit und Erwerbsunterbrechungen im Zusammenhang mit der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen ausgesetzt“, so Knauthe.

Das SoVD-Gutachten gibt auch darüber Aufschluss, warum Frauen die Pflegearbeit trotz des Armutsrisikos übernehmen: Oft spielen wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle bei der Frage, wer in der Familie in welchem Umfang für die Pflege zuständig ist. Dass die Frauen hier den weit größeren Anteil leisten, hängt auch mit ihrem oft niedrigeren Einkommen und ihren geringeren Erfolgs- und Karriereaussichten zusammen.

Als dringend notwendige Schritte nannte Knauthe eine Verbesserung der Pflegeinfrastruktur und haushaltsnaher Dienstleistungen, um Familien zu entlasten und die Fortführung der Berufstätigkeit neben der Pflegearbeit zu ermöglichen. Auch müsse sich die Erwerbsarbeitszeit an die Lebensrealität der berufstätigen pflegenden Angehörigen anpassen.

Untermauert wurde dies durch die Handlungsempfehlungen des unabhängigen Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, dessen ersten Bericht Beiratsmitglied Simone Real vorstellte.

Betroffene berichten von ihren Erfahrungen

Im Gespräch mit Betroffenen wurde die Forderung nach längeren Auszeiten von der Pflege laut: Zwei Wochen reichten nicht aus, da man praktisch nie freihabe. Außerdem wünschten sich die pflegenden Angehörigen mehr finanzielle Unterstützung durch eine Lohnersatzleistung analog der Elternzeit sowie den Abbau bürokratischer Hürden. „Es kann nicht sein, dass der beantragte Rollstuhl erst bewilligt wird, wenn der Pflegebedürftige schon verstorben ist, weil die Bearbeitungszeit so lange dauert“, beklagte etwa Monika Theismann. Gleichzeitig machte sie deutlich, dass pflegende Angehörige selbst etwas tun können: „Man muss das Haus aufmachen, um Hilfe von Nachbarn und anderen nahestehenden Menschen annehmen zu können.“

An die Arbeitgeber richteten sich Forderungen nach mehr Homeoffice, flexiblen Arbeitszeiten oder dem Angebot einer Tagespflege analog zu den Betriebskindergärten.

Dirk Hillebrecht ist selbst pflegebedürftiger Rollstuhlfahrer und monierte insbesondere mangelnde Informationen seitens der Krankenkassen: „Man weiß nicht, was man wissen müsste.“

Klare Forderungen an die Politik

In der abschließenden Gesprächsrunde stellte Annette Klausing von Verdi fest: „Das Thema Pflege ist in der Politik angekommen.“ Dennoch bleibe viel zu tun. Wenn selbst reine Pflegeleistungen nicht mehr finanziert seien, bestehe dringender Handlungsbedarf.

Sabine Grebe-Warmbold, Vorstandsmitglied der DMSG Niedersachsen, schlug vor, ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Pflege zu nutzen, um den Fachkräftemangel abzumildern und Jugendlichen Erfahrungen in diesem Berufsfeld zu ermöglichen.

SoVD-Chef Sackarendt ist überzeugt: „Wir brauchen eine Pflegevollversicherung, die sämtliche Kosten der Pflege abdeckt.“ Pflege gehöre zur Daseinsvorsorge und müsse wieder verstärkt kommunal aufgestellt werden. „Wir werden unsere Forderungen an die Politik auch weiterhin deutlich formulierern“, kündigte der Vorsitzende von Niedersachsens größtem Sozialverband an.