Teilhabe am Berufsleben fast gescheitertAusbilderin muss fünf Jahre auf Hörgeräte warten
Aufgrund einer Schwerhörigkeit benötigt Dagmar Lassan Hörgeräte mit bestimmten Merkmalen, um ihren Beruf als Lehrkraft fortsetzen zu können. Die Mehrkosten für geeignete – aber zuzahlungspflichtige – Geräte wollen weder ihre Krankenkasse noch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) übernehmen. Selbst das Sozialgericht Hildesheim erkennt Lassans Rechtsanspruch auf Nachteilsausgleich und berufliche Teilhabe nicht an. Erst im Berufungsverfahren, das der SoVD für sein Mitglied führt, bekommt Lassan Recht zugesprochen.
Nach einer Chemotherapie, der sich Lassan 2016/2017 unterzieht, ist ihr Hörvermögen beeinträchtigt. In ihrem Arbeitsalltag ist sie jedoch ganz entscheidend auf ein gutes Hörverstehen angewiesen, mitunter auch, um gefährliche und lebensbedrohliche Situationen abzuwenden. Sie arbeitet als Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung bei den Hannoverschen Werkstätten. Hier qualifiziert sie Schüler*innen mit Behinderung im Bereich der Hauswirtschaft. Ihre Tätigkeit umfasst neben Theorieunterricht auch einen praktischen Teil. Daher arbeitet sie täglich in der Nähe von geräuschintensiven Geräten wie Waschmaschine, Mangel, Bügelstation oder Nähmaschine. Trotz dieser regelmäßigen Umgebungsgeräusche muss Lassan mit ihren Schüler*innen verständlich kommunizieren können. „In der Freizeit habe ich es erst nicht so deutlich bemerkt, aber auf der Arbeit ist mir immer öfter aufgefallen, dass ich die Schüler nicht richtig hören kann“, erinnert sich Lassan. Bei der Betreuung der Schüler*innen kommt es auch immer wieder zu gefährlichen Situationen, die sie rechtzeitig erkennen muss; zum Beispiel, wenn sich jemand aus der Gruppe aggressiv verhält, sich verletzt oder gesundheitliche Probleme bekommt. Zudem muss sie trotz der Störgeräusche auch Telefonate führen.
Die Deutsche Rentenversicherung weigert sich, für benötigte Hörhilfen aufzukommen
Nachdem ihr Arzt eine beidseitige Innenohrschwerhörigkeit diagnostiziert, übergibt Lassan im Januar 2018 ihre Hörgeräteverordnung an einen Hörgeräteakustiker und testet mehrere Hörhilfen. Sie stellt fest, dass nur eines der zuzahlungspflichtigen Modelle den sehr speziellen und hohen Anforderungen ihres Arbeitsplatzes gerecht wird. „Auf jeden Fall musste es ein Hörgerät sein, das die Umgebungsgeräusche unterdrückt und das man mit dem Telefon verbinden kann“, schildert Lassan. Bei den zuzahlungsfreien Hörhilfen war das nicht gegeben, im Gegenteil hätten diese mit zusätzlichen Störgeräuschen das Arbeiten noch erschwert, erzählt sie. Beispielsweise habe sich das Geräusch der Absaugvorrichtung der Bügelstation in ein solches Hörgerät übertragen. Da Lassan für ihren Beruf eine zuzahlungspflichtige Hörhilfe benötigt, übermittelt der Hörgeräteakustiker im Mai 2018 einen Kostenvoranschlag an ihre Krankenkasse, die energie BKK. Diese bewilligt ihr daraufhin lediglich die Regelversorgung in Höhe von rund 1.600 Euro. Außerdem leitet die Krankenkasse Lassans Anliegen an die DRV weiter. Doch die DRV lehnt dieses ab. Sie ist der Auffassung, in Lassans Berufsalltag gebe es keine besonderen Anforderungen an das Hörvermögen. Auch den Widerspruch, den Lassan einlegt, weist die DRV nach über fünf Monaten im Dezember 2018 zurück.
Der SoVD unterstützt im Klageverfahren
Aus eigenen Mitteln kann Lassan die Mehrkosten nicht tragen, da sie während einer vorangegangenen schweren Erkrankung ihre finanziellen Rücklagen aufbrauchen musste. Sie wendet sich an den SoVD in Hannover. Die Rechtsexpert*innen des SoVD reichen daraufhin Klage gegen die DRV ein. Das Sozialgericht Hildesheim stellt fest, dass die Krankenkasse einen Fehler gemacht hat. Sie hätte Lassans Anliegen innerhalb von zwei Wochen an die – in diesem Fall eigentlich zuständige – DRV weiterleiten müssen. Da sie das versäumt habe, sei wiederum die Krankenkasse selbst in der gesetzlichen Pflicht gewesen, vollständig über den Antrag zu entscheiden. Daher wird die Klage gegen die DRV abgewiesen. Auch für die energie BKK bleibt das Gerichtsverfahren ohne Konsequenzen, denn das Sozialgericht erkennt in Lassans Beruf keine besonderen Anforderungen an das Hörvermögen. Für den Ausgleich ihrer Hörbeeinträchtigung seien auch zuzahlungsfreie Hörgeräte ausreichend, findet das Gericht.
Dagmar Lassan ist nach der Entscheidung des Sozialgerichts im Juni 2020 entmutigt. Eigentlich kann und will sie in ihrem Beruf weiterarbeiten, doch benötigt sie dafür die entsprechende Versorgung. „Für mich gab es nach dem Urteil nur zwei Optionen. Entweder den Beruf aufgeben und vorzeitig in Rente gehen oder in Berufung gehen“, erinnert sie sich. Zu Zweiterem habe ihr der Leiter des Sachgebiets Sozialrecht des SoVD in Niedersachsen, Frank Rethmeier, geraten. „Beim SoVD prüfen wir auch Gerichtsurteile genau und wenn wir eine Aussicht auf Erfolg für unser Mitglied sehen, dann empfehlen wir auch in die Berufung zu gehen und den eigenen Rechtsanspruch von der zweiten Instanz prüfen zu lassen. Denn auch Gerichten können Fehler unterlaufen“, sagt Rethmeier. Der SoVD geht 2020 in Berufung und begründet Lassans Rechtsanspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit den besonderen Höranforderungen ihrer Tätigkeit. Während des Berufungsverfahrens muss die Ausbilderin über jeweils mehrere Wochen verschiedene zuzahlungspflichtige und zuzahlungsfreie Geräte auf ihrer Arbeit testen. Ergebnis der Untersuchungen ist, dass nur eines der getesteten Geräte – ein zuzahlungspflichtiges – die Anforderungen ihres Arbeitsplatzes erfüllt. Auch das Landessozialgericht kommt zu dem Schluss, der energie BKK sei bei der Bearbeitung des Antrags ein Fehler unterlaufen. Sie hätte schon nach der Übergabe der Hörgeräteverordnung an den Hörgeräteakustiker handeln und die Zuständigkeit klären müssen. Da sie den Antrag aber nicht innerhalb der vorgegebenen Frist an die DRV weitergeleitet habe, sei allein die Krankenkasse für den Antrag zuständig geworden. Außerdem folgt das Landessozialgericht den Ausführungen des SoVD und erkennt an, dass Lassans anspruchsvolle Tätigkeit besondere Höranforderungen stellt. Die energie BKK wird im März 2023 verurteilt, die Kosten für die zuzahlungspflichtigen Hörhilfen vollständig zu übernehmen.
Nach einer Entscheidung des Landessozialgerichts muss die Krankenkasse die Kosten tragen
„Sehr erfreulich war, dass das Landessozialgericht klargestellt hat, dass eine nur ausreichende Versorgung eben nicht genügt, sondern dass die Krankenkasse verpflichtet ist, eine Behinderung möglichst vollständig auszugleichen und die bestmögliche Versorgung zu gewähren“, sagt Rethmeier. Lassan findet besonders positiv, dass die Richter*innen der zweiten Instanz deutlich gemacht haben, dass der Erhalt des Arbeitsplatzes Vorrang hat. „Es ist weder sinnvoll noch wirtschaftlich, eine Versorgung zu verweigern, mit der jemand noch viele Jahre berufstätig sein kann“, meint Lassan. Ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben gehe letztlich auf Kosten der Gesellschaft.